Wer auf Sicht fährt, braucht einen guten Kompass
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Der Begriff Leitbild ist schon ein wenig angestaubt und wird in vielen Unternehmen eher dem Begriff Leidbild gerecht, welchem man mit Zynismus oder Ignoranz begegnet. Wer sich diesen Begriff bei Wikipedia ansieht, findet einige Kritikpunkte, z.B. wird dem Leitbild oft vorgeworfen, es sei eine Ansammlung von Allgemeinplätzen. Dabei ist es für jede Form von Organisation oder sozialer Gemeinschaft von existenzieller Notwendigkeit, die eigene Identität festzuhalten und zu kultivieren. Dass dies in Unternehmen oft nicht gelingt, hat viele Ursachen, die ich hier nicht weiter ausbreiten möchte. Stattdessen möchte ich einen Weg aufzeigen, wie es gelingen kann zukünftig wirklich nützliche Leitbilder zu entwickeln.
Stellen wir uns erst einmal die Frage, warum es gerade jetzt lohnenswert ist, eine Leitbilddiskussion anzustoßen.
Mit steigender Komplexität wird es notwendig, sich selbst organisierende Strukturen aufzubauen. Eine Pyramidenorganisationen ist für Komplexität schließlich nicht geeignet. Wenn nun die dezentralen Kräfte in eine gemeinsame Richtung wirken sollen, ist eine Orientierung bzgl. der Daseinsberechtigung des Unternehmens, des Zukunftsbildes, des Wertefundaments, der Prinzipien und der Spielregeln von entscheidender Bedeutung. Und genau dazu dient das Leitbild. Dieses wirksam aufzustellen und zu verbreiten, ist die Kernaufgabe moderner Führungskräfte. Insbesondere wenn institutionelle Selbstorganisation durch agile Arbeitsweisen ergänzt wird, ist ein Leitbild als Orientierungsrahmen absolut relevant. In einer Umwelt, in der auf Sicht gefahren wird, muss das Leitbild als klarer Kompass fungieren, um dezentral gute Entscheidungen treffen zu können.
Ist der verbrannte Begriff Leitbild noch sinnvoll?
In der Vergangenheit wurde unbeabsichtigt viel Schindluder mit dem Begriff Leitbild getrieben. Zwischen Allgemeinplätzen und unfokussierter Vielfältigkeit wurden Slogans und emotionale Bilder hervorgebracht, die oft weder glaubwürdig noch verständlich oder identitätsstiftend waren. Die Relevanz der Authentizität der Verbreitung wurde oft schlichtweg massiv unterschätzt. In einer selbstorganisierten und agilen Welt müssen wir unbedingt einen neuen Anlauf wagen. Es geht immer noch um die Daseinsberechtigung (Mission), das Zukunftsbild (Vision), das Wertefundament und die unverrückbaren Prinzipien. Manche Unternehmen geben dem Leitbild einen neuen Namen, z.B. Nordstern oder Kompass. Wir bei noventum haben uns entschieden, das Wort Leitbild beizubehalten, da es keiner weiteren Erläuterung bedarf, und ihm eine starke Bedeutung zu geben. Während des Entwicklungsprojektes haben wir es auch augenzwinkernd „Leitbild mit Tee“ genannt.
Wie gelingt es, das Leitbild zu Glänzen zu bringen?
Gerne vergleiche ich die Leitbildentwicklung und -verbreitung mit einer Sanduhr. Im ersten Schritt wird divergiert. Es werden partizipativ viele Ideen zu Mission, Vision, Wertefundament und Prinzipien gesammelt. Diese werden im zweiten Schritt konvergierend verdichtet auf wenige Worte und Bilder. Damit werden die identitätsstiftenden Botschaften zwangsläufig entweder beliebig (wenn Worte und Bilder verständlich sein sollen) oder unverständlich (wenn man originell und einzigartig sein will). An dieser Stelle – nach der Konvergenz - hörten viele Leitbildentwicklungsprojekte auf. Viele Unternehmen konzentrierten sich darauf, die verdichteten Botschaften multimedial und kreativ zu verbreiten. Ich glaube, dass dies der Intention wenig hilft. Nach meiner Einschätzung muss jetzt wieder divergiert werden. Es sollte wieder in die Breite gehen mit persönlichen authentischen Geschichten, Bildern, Filmchen, Audioclips. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Eine Einbindung der jungen Wilden ist dabei sehr zu empfehlen, gerade weil manch unbeabsichtigte Dinge dabei herauskommen. Mit Objectives and Key Results und agilem Projektmanagement behält man den Verbreitungsprozess fokussiert im Blick.
Mission = Daseinsberechtigung des Unternehmens
Die Frage nach der Daseinsberechtigung eines Unternehmens wurde in der Vergangenheit oft beantwortet mit „Geld verdienen“. Das ist in einer New Work Umwelt nicht sehr hilfreich. Damit lassen sich nur wenige Mitarbeiter und Stakeholder begeistern. Das wäre so als würde die Antwort auf den Sinn des Lebens lauten „Ich lebe, um zu atmen“. Geld verdienen ist zwingend für die Lebensfähigkeit von Unternehmen, atmen ist zwingend für die Lebensfähigkeit von Lungentieren, beides ist aber nicht die Mission. Eine Mission misst sich an dem Nutzen für die Kunden, besser noch an dem Nutzen für das gesamte Business-Öko-System. Wem dieses nicht klar ist, kann ja mal die Frage stellen, was den Kunden bzw. der Welt fehlen würde, wenn es das Unternehmen nicht gäbe. Sich mit dieser Frage auf allen Ebenen des Unternehmens auseinanderzusetzen und gute Antworten zu finden, ist für ein selbstorganisiertes Unternehmen von existenzieller Bedeutung.
Vision = Zukunftsbild
Wo soll das Unternehmen übermorgen, d.h. in 5 – 10 Jahren, stehen? Welches Geschäftsmodell streben die Schlüsselspieler an, mit welchen Produkten können wir die Welt bereichern, welche Arbeitsweisen sollen uns auszeichnen? Nach der Frage nach dem übermorgen im Sinne eines visionären „I have a dream“, macht es im zweiten Schritt Sinn, die Frage nach den aktuellen Stärken zu stellen, um schließlich im dritten Schritt den Plan für das Morgen zu machen, d.h. die Strategie für die nächsten 1 – 3 Jahre aufzustellen und diese dann ggfs. mit OKRs und agilem Change Management zu steuern – fokussiert, transparent, partizipativ und adaptiv.
Wertefundament – Worte sind Projektionsflächen
Werte sind superwichtig. Darin besteht große Einigkeit. Werte werden meist durch Worte ausgedrückt. Oft genutzte Worte sind inflationär und sind Projektionsflächen unterschiedlicher Weltbilder. Wie kann unter diesen Umständen ein wirkungsvolles Wertefundament entstehen? An vertrauten Begriffen geht kein Weg vorbei. Ich orientiere mich dabei gerne an dem Vokabular des Great Place to Work Instituts mit den Begriffen Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Respekt, Fairness, Teamgeist, Verbundenheit und ergänze das Wort Selbstvertrauen. Auch diese Begriffe unterliegen der Inflationsgefahr, der Beliebigkeit und der Nichtauthentizität. Um dem entgegenzuwirken, helfen viele Gespräche über die jeweilige Interpretation, Storytelling und kreative Kommunikationswege. Ebenso habe ich sehr gute Erfahrungen mit externen und internen „benchmarkings“ über Kulturaudits und Mitarbeiterbefragungen gemacht, die dann in eine intensive Wertediskussion auf Augenhöhe (Achtung: inflationäres Wort) führen.
Prinzipien, Regeln und Spielregeln
Dies ist nun der vierte und letzte Teil des Leitbild Quartetts. Während in einer einfachen oder komplizierten Welt klare Regeln gelten, z.B. ein Abteilungsleiter darf bis 5.000 € selbständig bestellen, sind in einer komplexen Welt Prinzipien hilfreicher, z.B. „gehe sparsam mit den finanziellen Ressourcen um“. Was das genau heißt, muss aus dem Kontext gedeutet werden. Damit das funktioniert, ist ein hohes Maß an Transparenz und kollegialer Beratung notwendig. Spielregeln schließlich beschreiben die Grundsätze der Zusammenarbeit. Dabei ist es wichtig, dass diese schriftlich fixiert sind und gelten, solange die Beteiligten und Verantwortlichen erkennen, dass sie nützlich für das „Game of Business“ sind. Wenn sich das Gegenteil herausstellt, werden Sie in kollegialer Abstimmung nach dem Konsentverfahren angepasst.
Weitere Impulse insbesondere zum Leitbild als strategischen Kompass bekommt Ihr in dem Webinar am 22. Juni und in meinem Buch zum Ausbruch aus der Komplexitätsfalle. Anmelden zum Webinar könnt Ihr Euch hier: Anmeldung zum Webinar am 22. Juni
Das Webinar wird musikalisch gerahmt von der Jazz- und Soulsängerin Jocelyn B. Smith und dem Saxophonisten Volker Schlott, die uns aus Berlin im Kulturquartier besuchen.
Uwe Rotermund
Chief Empowerment Officer