Agilität in der öffentlichen Verwaltung
nc360° Interview mit Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe
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Agile Beratung, Organisationsentwicklung, People & Culture
Ob Scrum, Kanban, Backlog, Daily Standup, Product Owner oder OKR – seit einigen Jahren prägen zunehmend Begriffe aus der Welt der Agilität das Change-Management in großen Organisationen. Teams entwickeln in schnellen, intensiven und beweglichen Intervallen ihre Aufgaben im laufenden Prozess weiter und der Kunde selbst hat die Chance zur konkreten Mitwirkung. Höherer Kundennutzen, mehr Innovation und größere Wettbewerbsfähigkeit sind das Ziel. Auch öffentliche Verwaltungen stehen vor großen Herausforderungen wie der Corona-Krise, der Digitalisierung, dem Fachkräftemangel oder der Klimakrise und müssen ihre Arbeitsweise überprüfen. Passt agiles Arbeiten auch zum Auftrag, Denken und Handeln öffentlicher Verwaltungen?
Der Verwaltungsvorstand der Stadt Münster wollte es wissen und setzte unter der Moderation des Beratungsunternehmens noventum eine ämterübergreifende Arbeitsgruppe ein, um erste Schritte auf dem Weg zu einer agilen Stadtverwaltung zu erproben. Oberbürgermeister Markus Lewe initiierte persönlich den Prozess und wurde somit zum agilen Product Owner. Er berichtet in einem Interview für die noventum Info-Plattform nc360° von seinen Erfahrungen.
Münsters Oberbürgermeister initiiert agile Arbeitsgruppe zur Bewältigung epochaler Herausforderungen
nc360°: Öffentliche Verwaltungen haben den Auftrag, für das Gemeinwohl Verlässlichkeit und Stabilität zu repräsentieren und durch rechtsstaatliches Handeln die Einhaltung der Gesetze zu befördern. Passt zu diesem Auftrag die flexible Grundidee von Agilität und was hat Sie zu diesem Projekt veranlasst?
Markus Lewe: Ich nehme generell wahr, dass wir in den deutschen Stadtverwaltungen einen ungeheuer großen Veränderungsbedarf haben und dass die Verwaltungen, so wie sie gegenwärtig aufgebaut sind, die großen Transformationsanforderungen kaum erfüllen können. Digitalisierung, Klimaschutz und das Thema Arbeitgeberattraktivität sind gegenwärtig die großen Themen. Das merke ich auch in unserer Verwaltung. Deshalb war es mir wichtig, dass ich gemeinsam mit meinem Verwaltungsvorstand die Rahmenbedingungen schaffe, diesen Veränderungsprozess einzuleiten.
nc360°: Unternehmen führen agile Arbeitsweisen oft zunächst in einzelnen Abteilungen ein. Warum haben Sie das Projekt von der Spitze der Verwaltung aus gestartet?
"Als Verwaltungsvorstand müssen wir Vorbild und glaubwürdig sein"
Markus Lewe: Es geht zuerst einmal darum, eine Haltung vorzubereiten. Wenn der Prozess in einer Abteilung begonnen wird und dann im Verwaltungsvorstand “aufgegleist” wird, ist die Gefahr groß, dass andere Abteilungen mit Misstrauen reagieren. Es ging mir darum, dass wir zuerst einmal unsere Haltung überprüfen und von der Spitze her die Frage beantworten, “Wollen wir das überhaupt? Kriegen wir das gemeinsam hin? Haben wir den Vertrauensrahmen, in dem wir solche Prozesse gemeinsam durchführen können?” Als Verwaltungsvorstand müssen wir Vorbild und glaubwürdig sein.
nc360°: Wie verträgt sich das agile Freiwilligkeits-Prinzip (Aufgaben „ziehen“ statt „zuweisen“) mit der fachlichen und hierarchischen Struktur öffentlicher Verwaltung?
Markus Lewe: Wir haben das als Verwaltungsvorstand in den letzten Monaten schon eingeübt und mit dem im Mai dieses Jahres eingeleiteten Prozess erprobt. In einer eingehenden Analyse sind wir der Frage nachgegangen, worin eigentlich unsere großen Herausforderungen liegen und woraus die großen Störfaktoren bestehen, die uns behindern. Diesen Prozess haben wir nach agilen Regeln durchgeführt.
nc360°: Erleben Sie Widerstände gegen die Idee der „Agilität“ in Ihrer Verwaltung? Wie haben die einzelnen Ämter reagiert?
Markus Lewe: Die Reaktionen waren in Summe eigentlich ideal verteilt. Es gab keine überschwängliche Begeisterung aber auch keinesfalls Ablehnung. Bei dem einen oder anderen gab es sogar einen Punkt wie, „endlich einmal, das wurde auch Zeit, dass wir uns verändern“.
"Agilität ist schon heute für die Stadt Münster nichts Fremdes mehr"
nc360°: Können Sie sich vorstellen, Ihre Kunden (die Bürger der Stadt) stärker und aktiv an agilen Projekten der Verwaltung zu beteiligen? Oder anders gefragt: wer ist nach agiler Lesart der Kunde und sitzt dieser künftig mit am Planungstisch?
Markus Lewe: Das ist durchaus vorstellbar, zunächst einmal aber müssen wir als Verwaltungsvorstand selbst lernen, mit diesen Methoden zu arbeiten. Agilität ist allerdings für uns schon heute nichts Fremdes mehr und wird in unserem Krisenstab gelebt. Die Coronakrise ist ein gutes Beispiel. Wenn die Kassenärztliche Vereinigung oder die Polizei mit am Tisch sitzt, dann sind das die Gruppen, die an der Aufgabendurchführung beteiligt sind. Wir erleben heute in der Coronakrise wie Krisen-resilient die Stadt ist und wie agil die Verwaltung reagiert hat. In der Vergangenheit haben wir das bereits in der Flüchtlingskrise 2015 oder bei der Hochwasserkrise 2014 erlebt. Das ist sehr ermutigend.
nc360°: Was tun sie, um den Agilitätsgedanken zu professionalisieren und ihn weiter in die Verwaltung hineinzutragen?
Markus Lewe: Dieser Prozess muss sich verstetigen, darf aber ähnlich wie die „Digitalisierung“ nicht zum Selbstzweck werden. Entscheidend bleiben Kundenorientierung und Aufgabenorientierung. In unserem Qualitätsmanagement ist eine Mitarbeiterin unterwegs, die wie eine Lotsin hilft, Instrumente zu entwickeln und Strukturen aufzubauen. Sie berichtet direkt an mich und verkörpert insofern auch, dass Agilität in unserer Verwaltung Chefsache ist.
nc360°: Sie sind seit einigen Jahren auch der Präsident des Deutschen Städtetages. Tauschen sie sich dort mit anderen Kommunen über ihre Agilitäts-Erfahrungen aus?
"So, wie Verwaltung in Deutschland organisiert ist, werden wir unsere Ziele verfehlen."
Markus Lewe: Dieser Austausch nimmt ständig zu. Ich habe seit Jahren moniert, dass wir einerseits sehr hohe gesellschaftliche Anforderungen formulieren. So haben wir die Aufgabe, den Protest von der Straße (Stichwort Klimaschutz) in die Rathäuser zu bringen. Aber so, wie Verwaltung in Deutschland organisiert ist, werden wir die angestrebten Ziele verfehlen. Das ist für mich der Grund, gegenüber kommunalen und auch Landes- und Bundesbehörden zu fordern, dass wir deutlich mehr Geschwindigkeit in unsere Prozesse bringen, um diese epochalen Herausforderungen in Angriff nehmen zu können. Das gleiche gilt für Rechtsprechung und Gesetzgebung. Die Instanzen sind zu hoch und stören wichtige Prozesse wie z.B. den Aufbau von Offshore-Stromleitungen. Sie stören die Mobilitäts-Wende, weil Schienenprojekte viel zu lange dauern. Die Transformation für Klimaschutz und Klimaanpassung kann nur dann gelingen, wenn sich die Kerninstanzen und Kerngewalten verändern und künftig projektbezogen, interdisziplinär und agil arbeiten.
nc360°: Verwaltungen zu modernisieren ist seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Stichwort "Neues Steuerungsmodell" immer wieder Thema gewesen. Von der Legalität und Legitimität sollte Verwaltung sich weiter öffnen für Effektivität und Kundenorientierung. Welche Chancen sehen Sie für den erneuten Vorstoß, Verwaltung nunmehr mit Agilität realitätsnäher, präziser und kundennäher zu organisieren?
Eine Marke für Münster: „Die klimafreundlichste Stadt in Europa“
Markus Lewe: Wichtig ist, dass es ein Einvernehmen über die Ziele gibt. Ein konkretes Beispiel kann verdeutlichen, wie wir das Thema Agilität praktisch umsetzen wollen. Ich werde am 9. Mai eine „Konzern-Klimakonferenz“ einberufen. Die Kernverwaltung der Stadt, die Stadtwerke, Wohn- und Stadtbau, Abfall Wirtschaftsbetriebe und weitere werden daran teilnehmen.
Die Tagesveranstaltung wird in fünf Themenblöcke unterteilt
1. Energieerzeugung
2. Energieeinsparungen in Gebäuden, in Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen und Wohnen
3. Mobilität
4. Wirtschaft und Forschung
5. Bildung und Ernährung
Die Einteilung macht deutlich, dass es nicht nur ein Thema des Konzerns ist, sondern dass es geradezu danach ruft, im nächsten Schritt auch weitere Akteure mit einzubeziehen.
Den einzelnen Blöcken werde ich „Product Owner“ zuordnen, die dann die Verantwortung tragen. Kernaufgabe wird es sein, zunächst eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und die vorhandenen Regelungen und Maßnahmen zusammenzutragen, die heute noch sehr diffus und verstreut sind. Im nächsten Schritt werden Maßnahmen vereinbart, die dann über Kanban-Boards abgebildet werden und gezogen werden können. So wollen wir die Voraussetzung für eine weitere Applikation in unserem Zukunftsprozess „Klimaschutz und Klimaanpassung“ schaffen, wo dann die Zivilgesellschaft aktiv eingebunden werden kann. Dieses Vorgehen möchte ich zu einer Marke für Münster machen: „Münster, die klimafreundlichste Stadt in Europa“.
nc360°: Respekt, Herr Lewe, da haben Sie sich allerhand vorgenommen!
Markus Lewe: Die Frage ist, ob es gelingt. Ich sehe aber keine vernünftige Alternative. Der Agilitätsansatz, der uns durch noventum nahegebracht wurde, hat mich davon überzeugt, diesen Weg zu gehen. Wie wird Klimaschutz in der Stadt eigentlich wahrgenommen? Wir sehen eine unübersichtliche Situation von Maßnahmen und Positionen, teilweise ideologisch untermalt und mit Symbolthemen überlagert aber mit wenig CO2 Effizienz. Es gibt Stimmen aus der Wirtschaft, die sagen „wir würden gerne Klimaschutz machen, aber uns fragt ja niemand.“ So ist die Situation und wir müssen feststellen, dass dieses Mega-Thema nicht mehr mit den Methoden der Vergangenheit behandelt werden kann, sektoral und vereinzelt. Das führt dazu, dass wir sogar künftig als zusätzliches Steuerungsinstrument für unsere kommunalen Haushalte neben den Finanzdaten auch Nachhaltigkeitsdaten berücksichtigen müssen.
Noch ein Wort zum Deutschen Städtetag: das ist mir auch für meine nationale Glaubwürdigkeit wichtig. Ich kann nicht immer nur klagen und fordern, ich muss auch zeigen, dass wir vorankommen. Unser Tun wird aufmerksam beobachtet.
Zweifel an der Agilität ernst nehmen und alle Beteiligten und Betroffenen am Prozess beteiligen.
nc360°: Welches Resümee ziehen Sie aus den bisherigen Erfahrungen? Wie geht es jetzt weiter?
Markus Lewe: Bei der Einführung einer neuen Arbeitsmethodik wie der Agilität hat die psychologische Situation eine ebenso große Bedeutung wie die sachlichen Fragen es haben. Wenn solche gravierenden Veränderungen wie durch den Klimawandel anstehen, stellen alle Beteiligten schnell ihre Stacheln auf, weil sie in der Veränderung vor allem eine Bedrohung sehen. Skepsis gegenüber allem Neuen und die Sorge um den Bestand der eigenen Kompetenz und Rolle bestimmen nach meiner Erfahrung oft den Beginn größerer Veränderungen. Das muss man ernst nehmen und daher von Anfang an alle Beteiligten und Betroffenen am Prozess beteiligen.
In unserem Agilitätsprojekt hat noventum uns maßgeblich unterstützt. Es ist uns gemeinsam durch verschiedene Workshops und andere Veranstaltungen schnell gelungen, Neugierde und Vertrauen in den Prozess zu wecken. Wir haben es geschafft, Spaß an der Veränderung zu entwickeln und das Gefühl der Bedrohung zu beseitigen. Unser Projekt Klimawandel hat sehr viel Laborqualität und wir werden unsere Erfahrungen auch in den weiteren Großthemen – Digitalisierung und Arbeitgeberattraktivität – nutzen können.
Uwe Rotermund
noventum consulting GmbH
Münsterstraße 111
48155 Münster